Sehbehinderten-Kommentatoren im Waldstadion: Freud´ und Leid mit der Eintracht – für einige Fans eine Sache des Hörens

Jens Romeiser (links) und Joachim Heizmann kommentierten am Samstag (14.) das Spiel Eintracht Frankfurt gegen Schalke 04 für sehbehinderte Fans.

Sezen Stearn tippt auf ein Unentschieden. „Am liebsten wäre mir natürlich, wenn die Eintracht gegen Schalke gewinnt“, sagt die Frankfurterin und fügt nach einer kleinen Pause an: „Aber mal ehrlich: Wie realistisch ist das?“ Obwohl Eintracht Frankfurt am Samstagabend in der Commerzbank-Arena mit Schalke 04 auf einen ausgesprochen starken Gegner trifft - die Königsblauen waren seit fünf Spielen unbesiegt - überwiegt auf dem Balkon der Gegentribüne dennoch die Zuversicht. Wie die meisten Gäste dort sind auch Sezen Stearn und ihr Mann Nicholas in Schwarz, Weiß und Rot gekleidet, tragen in den Farben der SGE Mütze, Schal, Handschuhe - und Kopfhörer.

Letztere werden in den kommenden 90 Minuten für Stearn das wichtigste Utensil sein. Denn die junge Frau ist blind, ebenso wie die etwa zehn weiteren Stadionbesucher, die nun, eine halbe Stunde vor Spielbeginn, mit ihren Begleitpersonen auf dem Balkon eintreffen. Einige von ihnen sind Stammgäste, verpassen kaum ein Heimspiel der Adler, seit es in der Commerzbank-Arena Audioreportagen für blinde und sehbehinderte Fans gibt.
2006 startete Eintracht Frankfurt das Inklusionsangebot, das von der Arbeit der Sehbehinderten-Kommentatoren lebt, wie die Ehrenamtlichen offiziell heißen. Doch eigentlich sind sie viel mehr als das. Denn ihre Aufgabe geht über das Kommentieren weit hinaus. Vielmehr übersetzen sie das Geschehen auf dem Platz für die sehbehinderten Fans in Bilder, illustrieren quasi einen dunklen Hintergrund mit Farben, Formen, Bewegungen - kurz: Sie lassen mit bildhafter und detailreicher Sprache vor dem inneren Auge ihrer Zuhörer ein komplettes Fußballspiel entstehen.
Zudem ist kaum jemand so nah an den Gästen. Oder besser: Mittendrin. Denn anders als in vielen anderen Bundesligastadien sitzen die Kommentatoren in Frankfurt nicht getrennt von ihren Zuhörern in Kabinen, sondern sind bei ihnen auf dem Balkon, moderieren aus zwei, drei Metern Entfernung das Spiel. An diesem Samstagabend navigieren Joachim Heizmann aus Babenhausen und Jens Romeiser aus Frankfurt die blinden Fans durch das Top-Spiel.
„Die genaue Verortung ist ein bedeutender Teil unserer Berichterstattung“, sagt Heizmann, während er die Kopfhörer für die Gäste vorbereitet. „Es hilft den Sehbehinderten wenig, wenn wir ihnen nur sagten, dass Spieler A den Ball zu Spieler B gepasst hat. Unsere Gäste brauchen mehr Informationen, wie den möglichst genauen Standort der Spieler auf dem Platz, ihren Abstand zueinander, ob der Ball hoch oder flach, mit dem rechten oder linken Fuß gespielt wird.“
All das müssen die Kommentatoren in Sekundenbruchteilen erfassen und übersetzen. Joachim Heizmann und Jens Romeiser wechseln sich während des Spiels mehrmals ab; jeder moderiert sieben bis neun Minuten, gibt dann das Mikrofon an den Kollegen weiter. „Länger kann man sich nicht so intensiv auf das Spiel konzentrieren, wie wir das tun müssen“, sagt der Babenhäuser. Würden die Reporter unaufmerksam, würde dies das Stadionerlebnis der blinden Gäste beeinträchtigen. Neben den Ereignissen auf dem Platz haben die Kommentatoren auch das Geschehen auf den Zuschauerrängen im nahezu ausverkauften Stadion im Blick. Gibt es eine strittige Situation, beschreiben die Reporter auch die Reaktion der Fans.
Sechs Sehbehinderten- Kommentatoren gibt es in Frankfurt, an jedem Heimspieltag moderieren zwei von ihnen die Partie. Ein bis zwei weitere stehen als Ersatz zur Verfügung. „Falls einer ein Problem mit der Stimme bekommt, brauchen auch wir hier oben gewissermaßen einen Auswechselspieler“, sagt Nadine Dörr, die einzige Frau im Team, schmunzelnd. Während die meisten seit 2006 dabei sind, ist Joachim Heizmann erst vor drei Jahren hinzugekommen.
Angefangen hat er als Volunteer, half bei der Betreuung der Fußballfans mit Behinderungen. Eher zufällig stieß er schon bald zum Team der Sehbehinderten-Reporter. Denn die Besetzung ist stabil, wer sich einmal für die ehrenamtliche Arbeit entschieden hat, bleibt lange dabei. „Die Live-Berichterstattung für die blinden Gäste macht große Freude“, sagt Joachim Heizmann. „Der Kontakt ist hier sehr persönlich, man kennt sich, mit der Zeit entsteht eine freundschaftliche Beziehung.“ Es sei daher auch im Sinne der Blinden, dass die Reporter möglichst selten wechseln.
Einmal im Jahr lädt die Deutsche Fußball-Liga die Kommentatoren, die es inzwischen in allen Bundesliga-Vereinen gibt, zum Seminar mit Work-shops und praktischen Übungen. Die Bundesliga-Stiftung und die Aktion Mensch unterstützen finanziell die Aus- und Fortbildung der Sehbehinderten-Reporter. „Die visuelle Wahrnehmung macht etwa 80 Prozent der Sinneseindrücke aus, deshalb muss der Sehende erst lernen, die Welt so wahrzunehmen wie ein blinder Mensch.“ Selbst Eintracht-Fan zu sein, sei keine Voraussetzung für das Ehrenamt.
„Aber man hört und spürt, dass das Herz der Reporter für die Eintracht schlägt“, sagt Sezen Stearn, die mit ihrem Mann nach 92 Minuten Live-Fußball zufrieden das Stadion verlässt. Nicht nur wegen des Tors, das in der 64 Minute für die Eintracht fiel, sondern auch wegen der hervorragenden Arbeit der Kommentatoren.   mel

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