Nachruf: Abschied von Edith Ratner-Seewald

Mit 98 Jahren in den USA gestorben – Pogrom in Babenhausen erlebt

Ein altes Bild aus dem Jahre 1931 zeigt die 13-jährige Edith Seewald (Mitte) inmitten von Nachbarkindern.     (Foto: Bildarchiv HGV)

Im Alter von 98 Jahren ist am 19. März 2017 Edith Ratner, geborene Seewald, nach einem tragischen Unfall in einem Hospital in Washington DC in den USA gestorben. Die hochbetagte Seniorin war gestürzt, hatte dadurch eine Hirnblutung erlitten und schließlich noch eine Lungenentzündung bekommen. Mit ihr hat eine der letzten Zeitzeuginnen der Judenverfolgung in Babenhausen die Augen für immer geschlossen.

Edith Ratner-Seewald war die jüngste Tochter des in Babenhausen geachteten Kaufmannes Julius Seewald. Er gehörte von 1924 bis 1933 dem Vorstand der hiesigen Volksbank an. Die Seewalds hatten einen Eisen- und Gemischtwarenhandel. Trotz der Beliebtheit musste Julius Seewald bei den Ausschreitungen im Jahre April 1933 sehr leiden und wurde körperlich misshandelt. Tochter Edith – geboren am 25. August 1918 – erinnerte sich bei ihren Besuch im März 1999 in Babenhausen noch sehr genau an das schreckliche Ereignis: Es war ein Montag im April gewesen. Gegen 19 Uhr klingelte es im Haus Fahrstraße 26. Sie musste öffnen und wurde sofort von zwei Männern beiseite gestoßen. Vater Julius Seewald wurde ergriffen und die Treppe hinunter gestoßen. Der Marktplatz war voller Leute. Auch Bürgermeister Klein war zu dieser ungewöhnlichen Uhrzeit noch im Amt. Niemand auf dem Marktplatz rührte sich. Julius Seewald wurde in ein Auto gestoßen, dessen Nummernschilder verdreckt, also unleserlich waren, und abtransportiert. Im Hause Seewald hatten die beiden Unbekannten das Telefonkabel durchschnitten.
Als Julius Seewald wieder zurückkam, waren die Schläge, die er erhalten hatte, deutlich sichtbar. Mit roher Gewalt waren ihm auch Nägel herausgerissen worden. Aufgrund einer Herzattacke brachte ihn ein Bekannter ins Frankfurter Gagern-Spital. Wenige Wochen später fuhr Julius Seewald mit Familie – ein Teil war bereits Ende der 1920er Jahre in die USA ausgewandert – nach Stuttgart zum amerikanischen Konsulat, danach nach Wildbach im Schwarzwald. Über Hamburg erreichten die Seewalds am 17. Oktober 1933, dem Columbustag, Amerika. Julius Seewald starb 1945 in New York, seine Frau Julia 1953. Am 17. April 2015 wurden für die Familie Seewald durch den Künstler Gunter Demnig vor ihrem Wohnhaus Fahrstraße 26 Stolpersteine verlegt.
Edith Ratner-Seewald kam nach dem Kriegsende mindestens zweimal nach Babenhausen. 1962 hatte sie bereits einen Kurzbesuch gewagt. 1999 während des Ostermarktes war sie mit ihrer Tochter Jacqueline, die im diplomatischen Dienst der USA tätig war, in Babenhausen. Sie wollte ihr ihre alte Heimat zeigen. Bürgermeister Kurt Lambert hatte sie begrüßt. Auch ein Besuch des israelitischen Friedhofes stand auf dem Programm. Mindy Ratner, ebenfalls eine Tochter von Edith Ratner-Seewald, besuchte Babenhausen mehrfach, zuletzt am 9. November 2016 als Ehrengast des Geschichtsvereins anlässlich der Verlegung des bronzenen Synagogengedenkbandes an der Amtsgasse 16. Die Verlegung hatte der Babenhäuser Rechtsanwalt Dr. Ingo Friedrich initiiert und komplett gesponsert. Mindy Ratner besuchte bei ihren Aufenthalten in Babenhausen in der Regel auch die örtlichen Schulen, um mit Schülern zu diskutieren und über die Vergangenheit zu informieren.
Das Seewald’sche Haus, Fahrstraße 26 in Babenhausen, war der einzige jüdische Besitz in der Gersprenzstadt, der im Dritten Reich nicht arisiert wurde. Die Volksbank verwaltete das große Anwesen treuhänderisch. Das Gebäude wurde erst nach der Währungsreform veräußert. Das Gewerbe selbst hatte Julius Seewald kurz vor der Emigration an Richard André und Christian Oestreicher verkauft. (wi.)

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